Jiří Just, Prag
Neue Forschungen zur Reformationsgeschichte Böhmens und Mährens
Vortrag auf der Jahrestagung der Johannes-Mathesius-Gesellschaft
2.-4. Mai 2008 in Heilsbronn
Vor einem Vierteljahrhundert skizzierte Erik Turnwald in seinem Bericht "Zur Lage der sudetendeutschen Reformationsforschung" ein wenig erfreuliches Bild der damaligen tschechischen Historiographie in Bezug auf die Reformationsgeschichte der Länder der Böhmischen Krone bzw. der Sudetenländer.[1] Erlauben Sie mir in einem kleinen Beitrag einige Aspekte der heutigen Reformationsforschung in Böhmen und Mähren vorzustellen. Wie sieht die Situation heute, fast 20 Jahre nach der Wende aus?
Seit Beginn der neunziger Jahre erhielt die Forschung über die Reformationsgeschichte in der Tschechischen Republik viele neue Impulse. Die Entwicklung der religiösen Situation in der Reformationsperiode wurde unter vielen Gesichtspunkten für ein weites Spektrum der Historiker bald populär. Die früher gängige und eigentlich in der Forschung einzig diskutierte Hervorhebung der sozialen und politischen Rolle der Reformbewegungen, beginnend mit den Reformpredigern des 14. Jahrhunderts, über die Zeit der hussitischen "Revolution", bis zum tragischen Ende der tschechischen Reformation in der Schlacht am Weißen Berg, wurde inzwischen abgelöst durch das ernste Bemühen um ein Begreifen der komplexen mit der Reformation verbundenen Prozesse ersetzt. So werden wir auch Zeugen, wie die auf neue Fragen gerichtete Forschung die manchmal zu engen Schranken der historischen Theologie oder Kirchengeschichte weit überschreiten und das Milieu der theologischen Fakultäten verlässt, mit dem die - eher seltenen - derartigen Versuche früher verbunden waren. Dies kann ein Vorteil, aber in gewissem Sinn auch ein Nachteil sein. Die wissenschaftliche, vom theologischen Hintergrund abgehobene Arbeit, verliert oft die Kirche als eine lebendige Gemeinschaft aus den Augen, falls sie ihr überhaupt einen solchen Status zugesteht, also die Gemeinschaft, deren Vergangenheit mit der Gegenwart (freilich auch mit der Zukunft) auf eine ganz besondere Weise in Beziehung steht. So begnügt man sich vielerorts bei der modernen Erforschung der Vergangenheit der "ecclesia Dei" nur mit der breiten aber doch zu beschränkten und flachen Ebene "der Institutionsgeschichte" (z. B. mit der Strukturen der Kirchenverwaltung). Leider läßt man die reichen Schätze des theologischen Erbes und seiner Gedankenwelt außer acht.
Für die heutige kirchengeschichtliche Forschung ist schon seit einiger Zeit auch ein deutlich geringeres Interesse an der Reformation zugunsten der Religiösität der Barockzeit kennzeichnend. Diese Tatsache ist gewiß auch eine Spätfolge der marxistischen Historiographie, die sich einseitig für gewisse Aspekte der Reformation als sozialer Bewegung interessierte und demgegenüber die Zeitspanne der Rekatholisierung Böhmens und Mährens zwischen der Niederlage der Stände am Weißen Berg und der josefinischen Reformen des Aufklärungszeitalters als eine Periode des tiefen Niederganges - "die Zeit der Finsternis" - verschmähte. Bei der heute weithin populären Jesuitenforschung handelt es sich also eher um eine natürliche Reaktion auf die frühere Vernachlässigung des Studiums bestimmter Perioden und bestimmter Themen und - darf man wohl sagen - um eine Modeerscheinung. Die Forschung in der Zeit der Totalität verursachte der Reformation im Grunde einen doppelten Schaden. Einerseits verzerrte sie grob das Bild der gesamten Epoche, andererseits verleidete sie der heranwachsenden Historikergeneration die Beschäftigung mit ihr.
Die Reformationsgeschichte findet in Tschechien auf der Ebene der wissenschaftlichen Forschung immer noch nicht den ihrer Bedeutung entsprechenden Raum. Wir haben bis jetzt kein Periodikum, das in der Lage wäre, das Geschehen im Fach ständig zu reflektieren.[2] Von einem Institut, das die Arbeit auf diesem Feld fördern könnte, kann man heute nur träumen. Vernachlässigt ist vor allem die Editionsarbeit. Zwar wird dem Werk von Jan Hus und Jan Amos Komenský schon besonderes Augenmerk zuteil. So hat die Philosophische Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn von der Akademie der Wissenschaften in Prag die Fortsetzung der kritischen Ausgabe der Hus-Schriften übernommen und fördert das Philosophische Institut der Akademie die Herausgabe von Comenius' "Opera Omnia". Doch eine große Zahl von Zeugnissen der tschechischen Reformation ist auch weiter nur in Form von Handschriften oder alten Drucken zugänglich. Die moderne Ausgabe des literarischen Werks der Brüderunität, auf die sich die Aufmerksamkeit der Kirchenhistoriker im letzten Jahrhundert vor allem konzentrierte, umfaßt gegenwärtig noch kaum mehr als zehn Prozent des gesamten Quellenumfangs.[3] Die Erforschung des kirchlichen Lebens von Lutheranern, Reformierten und des radikalen Flügels der Reformation in seiner ganzen Breite steckt immer noch in den Anfängen.
Doch kann man auch wiederum nicht sagen, daß die Erforschung der Reformationsgeschichte gänzlich vernachlässigt wird. Abgesehen von der Tatsache, daß doch endlich auch das Interesse an der Geschichte des Luthertums in den Sudetenländern, mindestens unter den Kunst- und Regionalhistorikern erwacht und zahlreiche Teilstudien in Zeitschriften der historischen Spezialgebiete und in Regionalperiodika verborgen sind, sind auch eine Reihe neuer Impulse auf kirchlichem Boden zu verzeichnen. An dieser Stelle können wir z. B. die historische Gesellschaft Veritas erwähnen, die sich, wie schon aus dem Namen dieses Vereins hervorgeht, für "die Aktualisierung der Traditionen der tschechischen Reformation" einsetzt. Auf den Bereich der mährischen Brüder sowie der ersten Herrnhuter Missionare im Zusammenhang mit der Regionalgeschichte des Kuhländchens konzentriert sich die "historisch-heimatkundliche Gesellschaft Moravian" mit ihrem Museum in Zauchtel. Ein Mangel der beiden genannten Unternehmen ist allerdings ein latentes Mißtrauen gegenüber der akademischen Welt und die nur ungenügende Berücksichtigung wissenschaftlicher Standards, die im Zusammenwirken mit einer gewissen Voreingenommenheit das ganze Bemühen einigermaßen entwerten.[4] Deutlich übertroffen werden die erwähnten Initiativen seit einiger Zeit jedoch von der Prager Luthergesellschaft - zumindest wenn man deren Publikationstätigkeit zum Maßstab nimmt, die im Vergleich mit dem tschechischen Durchschnitt durchaus beeindruckend, wenngleich für deutsche Verhältnisse immer noch recht bescheiden ist. Auf Betreiben der Luthergesellschaft wird voraussichtlich im kommenden Jahr auch endlich die schon lange überfällige Darstellung der Geschichte des Luthertums in Böhmen und Mähren von den Anfängen bis zur Gegenwart erscheinen.
Neue Chancen für die Forschung bieten üblicherweise auch neue Quellenfunde. Im Fall des Archivs des brüderischen Bischofs Matouš Konečný (+1622), das man im Jahre 2006 in Mladá Boleslav entdeckte, handelt sich sogar um ganz einzigartiges Material, das den Horizont der Forschung in der Reformationsgeschichte Böhmens und Mährens wesentlich erweitert. Was erfahren wir aufgrund des Fundes Neues über die damalige konfessionelle Situation? Die Antwort ist durch die Eigenart der gefundenen Quellen bedingt. Den Kern der Schriftstücke bildet die Korrespondenz mit insgesamt 524 Briefen, die größtenteils an Matouš Konečný adressiert wurden. 206 von ihnen haben in Bezug auf die genannte Frage größeren Stellenwert. Sie wurden von anderen brüderischen Bischöfen geschrieben und liefern uns eine große Menge unterschiedlichster Informationen. Zu den Autoren der Schreiben gehören die Eibenschützer Bischöfe Jakub Narcis Vrchopolský (+ 1611), Jan Cruciger (+ 1612) und Georg Erastus (+ 1643), der Perauer Bischof Jan Lanecký (+ 1626), der Bischof und Prediger der Bethlehemskapelle in Prag, Matěj Cyrus (+ 1618), der Konsistorialrat in Prag Jan Cyrill (+ 1632), die Bischöfe der polnischen Unität Martin Gratian Gertich (+ 1629) und Jan Turnovský (+ 1629). Die Korrespondenz stammt fast ausschließlich aus der Zeit zwischen der Herausgabe des Majestätsbriefes und dem Beginn der Kriegshandlungen des Ständeaufstands.
Diese Zeit bildet eine besondere Periode des tschechischen Protestantismus, aber zugleich auch die letzte Periode, in der der nichtkatholischen Bevölkerung die freie Ausübung der Religion rechtlich garantiert sein sollte. Der bekannte Majestätsbrief war das Ergebnis langjähriger Kämpfe der böhmischen evangelischen Stände mit der königlichen Macht und der Herrscherautorität der Habsburger auf der politischen Ebene. Seine Herausgabe wäre ohne massiven Druck nicht möglich gewesen, und dieser war wiederum nur unter bestimmten Bedingungen denkbar. Er war kein Akt des freien königlichen Willens, sondern Ergebnis des politischen Kalküls der böhmischen Stände, die den böhmischen König Rudolf im Kampf mit seinem Bruder Matthias nur unter gewissen Zugeständnissen unterstützen wollten. Ein solches Zugeständnis war die über eine bloße mündliche Zusage, wie 1575 durch König Maximillian II. im Fall der Böhmischen Konfession, hinausgehende, wirkliche Ratifikation der Religionsfreiheit in Böhmen. Mit diesen Worten möchte ich nicht die Bedeutung des eigentlichen Dokuments abschwächen, sondern nur darauf hinweisen, daß der Zustand, den es sichern sollte, aus vielerlei Gründen nur sehr labil und kurzlebig war. Der Majestätsbrief vertrat die in seiner Zeit sehr fortschrittliche Auffassung der persönlichen Freiheit. Die freie Ausübung der Religion wurde auch den Untertanen zuerkannt, unabhängig davon, ob sie in den Königsstädten oder gar auf dem privaten Gut des Königs wohnten. Aufgrund des Majestätsbriefes wurde auf die evangelischen Stände auch die Verwaltung des Konsistoriums der utraquistischen Kirche und der Universität übertragen.
Man könnte meinen, daß der Majestätsbrief für die Protestanten ein ruhiges, ja fast goldenes Zeitalter eingeläutet hätte. Sie konnten ungestört publizieren und die neuen Drucke ganz frei verbreiten, es wurden zahlreiche neue Kirchen gebaut: In Prag etwa bauten die Lutheraner die Salvatorkirche, und die Brüderunität errichtete am Ort der früheren Simeon- und Juda-Kirche ein neues Gotteshaus, was kurz zuvor noch ganz undenkbar gewesen wäre. Aber die konfessionelle Situation war ziemlich unübersichtlich und keineswegs friedlich. Als "Evangelische" bezeichneten sich alle Protestanten: die Lutheraner nach dem Konkordienbuch, die Filippisten, die Reformierten, obwohl sie in Wirklichkeit nur eine formelle Einheit bildeten. Die Filippisten bemühten sich um engere Kontakte mit der Brüderunität, und der Annäherung stand kaum etwas entgegen. Die Unität war immer eine exklusive Gemeinschaft gewesen und hatte sich trotz der gelegentlichen Versuche, die nützlichen theologischen Ansätze aus dem breiten Horizont des europäischen Reformationslagers zu integrieren, einen originellen Weg des theologischen Denkens bewahrt. Aber am Anfang vom 17. Jahrhundert geriet ihre Theologie immer mehr ins Fahrwasser der Reformierten. Auf Forderung der evangelischen Obrigkeit übernahmen die Brüderpriester nicht selten die Verwaltung von utraquistischen Pfarrsprengeln. Die Untertanen waren aber nicht an die brüderischen Gottesdienste gewöhnt. Sie forderten ihre alte Liturgie zurück, und die Unitätsleitung mußte einen Kompromißweg suchen, was zu ständigen Spannungen zwischen den Bischöfen in Böhmen und Mähren führte. Im Jahre 1619 sandten sechs junge mährische Brüderpriester ein Memorandum an die Senioren der Unität. Sie fordern die Vereinigung mit den Evangelischen, damit der Verzettelung der Kirche abgeholfen werden könnte.
Die letzten Jahrzehnte vor dem Weißen Berg sind auch in Böhmen und Mähren durch die Eskalation der theologischen Streitigkeiten im Reformationslager gekennzeichnet. Die Lutheraner fühlen sich durch die Vereinigungstendenzen von Seiten der Unität und der filippistisch gesinnten Evangelischen gefährdet und beobachten diese mit dem größten Mißtrauen und Widerstand. Sie fordern die Auslegung der Böhmischen Konfession nach dem Konkordienbuch und greifen die kalvinistisch orientierten Utraquisten sowie die Brüderunität an. Nennen wir an dieser Stelle wenigstens den Hofprediger beim sächsischen Kurfürsten und während der Jahre 1610-1613 Pfarrer der deutschen lutherischen Gemeinde in Prag D. Matthias Hoe von Hoenegg (+ 4.3.1645). Sein Aufenthalt in Prag ist durch die Streitigkeiten mit den Katholiken sowie mit den kalvinistisch orientierten Utraquisten gezeichnet. Aber auch die Katholischen verstärken in dieser Zeit die Missionsaktivität. Im Jahre 1613 erschien ein Auszug aus der polemischen Schrift des Jesuiten Václav Šturm gegen die Brüder. Die Leitung der Unität hat nicht lange gezögert. Ein Jahr danach wurde die Verteidigungsschrift von Matouš Konečný "Pravda vítězící" (Die siegende Wahrheit) gedruckt, und der Brüderhistoriker Jan Jafet schrieb als offizielle Antwort auf die vom Prager Erzbischof Jan Lohelius unterstützten literarischen Angriffe eine neue Geschichte der Unität. Sie hebt den einheimischen Ursprung der Brüderunität hervor, also ihre Kontinuität zu den früheren hussitischen Reformversuchen, und behandelt die Entstehung der eigenen Priesterschaft sowie des brüderischen Bischofsamtes. An einigen Orten versuchte die katholische Obrigkeit ein entschlosseneres Vorgehen bei der Rekatholisierung. In Chropyně bei Kremsier im Mähren ließ Kardinal Franz von Dietrichstein 1615 das brüderische Gebetshaus abreißen. Das dortige Gemeindehaus und die Brüderschule wurden geschlossen. Ein Jahr später wurde das Gemeindehaus in Holešov den Jesuiten übergegeben, und das Haus der Unität im nahen Dorf Lechotice wurde auch abgerissen.
Wir dürfen die Situation der letzten Jahrzehnte vor dem Weißen Berg nicht nur als einen Kampf zwischen Katholiken und Protestanten, oder ein Kampf zwischen zwei verschiedenen politischen Konzepten, zwischen der königlichen und der ständischen Macht, betrachten. Der Konflikt erstreckte sich auf mehrere Ebenen. Es handelt sich zugleich um den Wettstreit zwischen den verschiedenen Konfessionen des Reformationslagers. Während im Ausland, besonders im Reich, die Karten schon lange vergeben waren - Sachsen war lutherisch, in Brandenburg setzten sich die Reformierten durch, war die Situation in Böhmen noch unentschieden. Mit dem Majestätsbrief erhielten beide Reformationsparteien eine gute Möglichkeit, in das Ringen um die künftige religiöse Orientierung des Landes einzutreten. Das schwächte allerdings aufs Ganze gesehen die Reihen der Protestanten. Im Jahre 1617 akzeptierten die böhmischen Stände Ferdinand II. unbedenklich als böhmischen König, obwohl sie über die von diesem in der Steiermark durchgeführte harte Rekatholisierung gut informiert waren. Der Abriß der lutherischen Kirche auf der erzbischöflichen Herrschaft in Klostergrab im Erzgebirge und die Schließung der Kirche in Braunau in Ostböhmen waren nur gute Gelegenheiten, den oben angedeuteten Konflikten eine neue Dimension zu geben. Es folgte der Aufstand und die Berufung des pfälzischen Kurfürsten auf den böhmischen Königsthron. Auf einmal genossen die Protestanten für kurze Zeit soviel Ansehen wie nie zuvor in der Geschichte. Im November 1619 krönte der utraquistische Administrator Georg Dikastus zusammen mit dem Brüdersenior Johann Cyrill den neuen König, und die Kalvinisierung setzte sich schnell durch. Die Plünderung des Prager Veitsdoms und die rücksichtlosen Eingriffe im Sinne einer Festlegung auf die kalvinistische Orientierung der böhmischen evangelischen Kirche stießen aber in der evangelischen Bevölkerungsmehrheit kaum auf Sympathie. Dieser blieb freilich angesichts der raschen militär-politischen Entwicklung wenig Zeit für die theologische Reflexion. Die Schlacht am Weißen Berg am 6. November 1620 wurde zum Meilenstein in der Geschichte der tschechischen Protestanten und bedeutete für lange Jahrzehnte das Ende ihrer kirchlichen Organisation in den böhmischen Ländern.
Anmerkungen
[1] Turnwald, Erik, Martin Luther und die Reformation in den Sudetenländern, Bad Rappenau: Johannes-Mathesius-Verlag, 1984, s. 19-24.
[2] Erinnern wir an dieser Stelle wenigstens an das von Ferdinand Hrejsa und František M. Bartoš geleitete Reformationsjahrbuch (Reformační sborník), das in den Jahren 1921-1946 eine ganze Reihe von wichtigen Studien zum Protestantismus auf unserem Territorium zusammentrug.
[3] In diesem Zusammenhang kann man die tschechische Übersetzung des Konkordienbuches unter der Leitung von Doz. Martin Wernisch von der Prager Evangelischen theologischen Fakultät erinnern: Kniha svornosti, Hrsg. von Martin Wernisch, Praha: Kalich, 2006.
[4] So ist die überaus fleißige Editionsarbeit bei der Herausgabe der Toleranzprotokolle, die der Kirchengeschichtsverein Veritas seit Jahren leistet, doch von einer gewissen Unklarheit bei der Suche nach dem Selbstverständnis der tschechischen Evangelischen begleitet.